“Bitte”, “Danke”, “Entschuldigung”
Teil 1: Vorbild statt Dressur
Bitte, Danke, Entschuldigung - Teil 1
“So geht’s auch!”, denke ich mir manchmal, wenn eine Situation auf unvorhergesehene oder unkonventionelle Weise gemeistert oder aufgelöst wird. Dieses „thinking outside the box“, dieses Über-Bord-Werfen von eingefahrenen Mustern und überholten Vorstellungen, dieser Mut zum Andersmachen – das gehört für mich zu den nützlichsten Fertigkeiten im Elternalltag.
Im Grunde braucht es nur drei Zutaten, die uns den Ausstieg aus mühsamen und festgefahrenen Situationen erleichtern:
Wir müssen bereit sein, unsere Vorstellungen davon, wie es sein sollte, zu hinterfragen und loszulassen.
Wir dürfen unserer Kreativität und der unserer Kinder beim Finden von neuen Lösungen freien Lauf lassen.
Wir brauchen mitunter etwas Übung, um in diese neue Art zu denken hineinzufinden.
Letzteres wird einfacher, wenn wir anderen dabei ein bisschen über die Schulter schauen können und uns so inspirieren lassen. Und genau dazu dient diese Serie. Diesmal geht es um Verhaltensweisen, auf die viele Eltern meinen ihre Kindern regelrecht dressieren zu müssen – “Bitte” und “Danke” zu sagen, sich zu entschuldigen, oder zu grüßen zum Beispiel. Ein Unterfangen, das nicht nur für beide Seiten mühsam und zeitweise richtig unangenehm ist, sondern auch richtig nach hinten losgehen kann, wie wir sehen werden…
Ganz wie die Großen
Drei Situationen, die sich – ich schwöre! – genau so zugetragen haben. Nur die Namen der Beteiligten wurden geändert.
Situation 1: Mama kocht, während Susi im Nebenzimmer spielt, als Mama sich die kleine Zehe am Küchenhocker anhaut und vor Schmerz aufquietscht. Susi kommt sofort angelaufen, nimmt Mamas Hand, schaut sie treuherzig an und sagt “Entschuldigung, Mama!” Mama ist ungefähr zu gleichen Teilen gerührt und verwirrt. “Wieso entschuldigst du dich denn? Ich hab mich angehaut. Das hat doch nichts mit dir zu tun.” – “Im Kindergarten ist das so, wenn jemand ein Aua hat, muss man sich entschuldigen.”
Situation 2: Franzi und Marie streiten um ein Spielzeug. Franzi haut Marie. Franzis Vater schreitet ein. Streng schaut er seinen Sohn an: “Was sagt man da?” – Franzi seufzt, greift nach Maries Hand und murmelt “Entschuldigung”. Während Franzi und Marie sich weiter um das Spielzeug streiten, wendet Franzis Vater sich mit stolz geschwellter Brust Maries Eltern zu: “Das hab ich ihm nämlich gelernt! Wenn man jemanden haut, muss man nachher ‘Entschuldigung’ sagen!”
Situation 3: Finn und Gloria spielen miteinander, dabei leert Gloria eine Dose mit kleinen Perlen auf den Boden. Glorias Mutter möchte, dass die Perlen eingesammelt werden, bevor die Kinder weiter spielen. Finn möchte gerne bald weiter spielen und räumt deshalb rasch und bereitwillig die Perlen ein. Zwischendurch blickt er auf, schaut Gloria herausfordernd an und fragt “Wie sagt man da???”
Ich finde es ja immer bemerkenswert, wenn unsere Kinder uns einen Spiegel vorhalten und uns die Möglichkeit geben, so viel von ihnen zu lernen, wenn wir nur bereit sind, wirklich hinzuschauen. (Anderes Thema, aber gestern habe ich meine Kinder von einer Spieleverabredung abgeholt. Sie wollten noch spielen, ich wollte ein klares Ende definieren. Wir haben diskutiert und versucht eine gemeinsame Lösung zu finden. Bis meine Tochter mich unterbrochen hat und mir einen dieser typischen Elternsätze entgegen geschleudert hat: “Wir wären jetzt schon längst mit dem Spielen fertig, wenn jetzt nicht alles aufhalten würdest!” Touché, Tochter, touché!)
Angestrebter versus tatsächlicher Lernerfolg
In diesen Situationen können wir so klar erkennen, was die jeweils beteiligten Erwachsenen den Kindern beibringen wollten bzw. wohl auch beigebracht zu haben meinen – und was die Kinder tatsächlich gelernt, welche Schlüsse sie aus dem Verhalten und den Aussagen der Erwachsenen gezogen haben:
Die kleine Susi ging zu diesem Zeitpunkt gerade seit ein paar Wochen in den Kindergarten und war schwer damit beschäftigt, sich im umfangreichen und komplexen Regelkonstrukt dieser neuen Situation zurecht zu finden. Die Pädagogin legte laut eigener Aussage sehr viel Wert auf soziales Lernen und respektvollen Umgang miteinander. Dazu gehörte ganz logisch auch, dass sie den Kindern vermitteln wollte, erstens Konflikte ohne Einsatz von Körpergewalt zu lösen und zweitens, wenn es doch einmal passierte, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und Reue zu zeigen. So forderte sie Kinder, die einem anderen Kind weh getan hatten, beharrlich dazu auf sich zu entschuldigen. Dass die Konzepte von Perspektivwechsel, Verantwortung und Reue die Psyche eines zweijährigen Kindes zumindest teilweise noch ziemlich überfordern, war in ihrer Intention leider nicht wirklich berücksichtigt.
Was infolgedessen zumindest bei Susi tatsächlich angekommen ist, hat sie uns ja ganz deutlich selbst gesagt: “Wenn jemand ein Aua hat, muss man sich entschuldigen.” Das ist eine Regel, die vielleicht nicht viel Sinn ergibt, aber man kann sie akzeptieren, wie so einige andere Erwachsenendinge auch. Und dass Susi beobachtet hat, dass es vorkommt, dass andere sich nach dem Entschuldigen besser fühlen – und dass sie in diesem Moment das Bestreben hat dazu beitragen, dass Mama sich besser fühlt, das ist doch eigentlich auch schon eine ganz schöne Empathieleistung für so ein kleines Menschenwesen. Dass von dem ganzen pädagogischen Überbau nicht viel angekommen ist, ist eine andere Geschichte – eine, die bei der Pädagogin aber leider nicht einmal dann ankam, als Susis Mutter ihr diese Geschichte erzählte, weil sie so in ihrer Methode gefangen war, dass es ihr schwer fiel die Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten und sich zu fragen “Wie kann ich denn vermitteln, was ich vermitteln will?” – Eine Frage, mit der wir uns nächste Woche beschäftigen werden.
Schauen wir weiter zu Franzi und Marie. Franzis Vater hatte bestimmt ähnlich ehrenwerte Intentionen wie Susis Pädagogin. Er wollte nicht, dass sein Sohn zu den Kindern gehört, die erst kräftig austeilen und dann so tun, als wäre nichts gewesen. Möglicherweise ging seiner Intervention sogar die durchaus realistische Einschätzung voran, dass es nicht gelingen wird, das Hauen oder Schubsen von einem Tag auf den anderen aus dem Verhaltensrepertoire seines Sohnes zu entfernen und es deshalb sinnvoll ist, ihm auch Handlungsstrategien für den Fall, dass es eben doch passiert, an die Hand zu geben. Was er meinte, seinem Sohn mitzugeben, war also das Wissen, dass es nicht okay ist, jemand anderem weh zu tun und einen Weg zu zeigen, dass es ihm leid tut. Was er aber seinem Sohn mitgegeben hat: Eine simple Handlungssequenz – so wie “Wenn ich mir den linken Schuh angezogen habe, zieh ich auch den rechten an” oder “Nach dem Klo Gehen immer Hände waschen” oder “Erst Zähne putzen, dann ausspülen” hat Franzi nun verinnerlicht “erst hauen, dann entschuldigen”.
Weil die Entschuldigung für ihn damit wie eine leere Hülle ist, ein Ritual, das in keinerlei Verbindung zu seinen inneren Empfindungen steht – oder diesen vielleicht sogar diametral entgegengesetzt ist, wenn ihm die Entschuldigung zu einem Zeitpunkt abgerungen wird, zu dem es ihm ja eigentlich (noch) gar nicht leid tut, ist dieses Sich-Entschuldigen für ihn nichts als eine lästige, mitunter unangenehme Pflicht. Und dieses Gefühl wird möglicherweise auch auf Dauer damit verbunden bleiben. Wir alle kennen diese Erwachsenen, die es um die Burg nicht schaffen, sich für etwas zu entschuldigen, das sie verbockt haben. Selbst wenn es ihnen eigentlich leid tut. Weil der Akt des Sich-Entschuldigens für sie so dermaßen unangenehm ist, dass sie sich einfach nicht dazu überwinden können… Und ich könnte wetten, dass diese Menschen als Kinder dazu gezwungen wurden sich zu entschuldigen… Wenn wir also unseren Kindern – und damit auch allen Menschen, mit denen sie im Lauf ihres Lebens so zu tun haben werden – dieses Schicksal ersparen wollen, müssen wir mit dieser seltsamen Tradition brechen, unsere Kinder dazu zu zwingen oder zu drängen, Entschuldigungen auszusprechen, die sie gar nicht verstehen oder gar nicht meinen! Was wir stattdessen tun können, schauen wir uns dann nächste Woche an!
Bleiben uns schließlich nur noch Finn und Gloria. Sie führen uns eindrücklich vor Augen, wie wir Eltern es uns manchmal herausnehmen, mit unseren Kindern so zu reden, wie wir es mit keinem anderen Menschen, den wir auch nur halbwegs respektieren, tun würden. Wenn wir uns wieder die Fragen stellen “Was wollten die Eltern mit ihrem Verhalten bezwecken?” und “Was haben sie beim Kind tatsächlich erreicht?”, liegt bei Finn der Schluss nahe, dass seine Bezugspersonen in ihm das Bewusstsein wecken wollten, dass wir unsere Dankbarkeit zeigen, wenn jemand etwas Nettes für uns tut. Ein absolut verständliches Ziel. Was Finn gelernt hat, ist nun einerseits, dass wir “Danke” sagen, wenn jemand etwas Nettes für uns tut – inwieweit dieses Wort in Finns Innenwelt tatsächlich in Zusammenhang mit der Empfindung der Dankbarkeit gebracht wird und inwiefern es einfach ein Ritual, eine Abfolge, ähnlich wie bei Franzi und der Entschuldigung ist, können wir von außen schwer beurteilen. Was Finn aber noch gelernt hat, ist, dass es total üblich ist, als Helfender sein “Danke” auf harsche Weise einzufordern, wenn es nicht sofort kommt.
Und der Lernbedarf besteht aus meiner Sicht in diesem Fall nicht bei Finn, der einfach lernen muss, dass so nur Erwachsene mit Kindern sprechen dürfen, aber nicht Kinder mit Kindern, nicht Erwachsene mit Erwachsenen und – Gott bewahre – schon gar nicht Kinder mit Erwachsenen, sondern bei Finns erwachsenen Bezugspersonen, von denen er dieses Verhalten ja offensichtlich abgeschaut und für normal befunden hat, beziehungsweise auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, immerhin ist diese Art mit Kindern zu sprechen ja weithin verbreitet, akzeptiert und anerkannt.
Wenn ich meiner Freundin einen Kaffee bringe und sie sagt nicht sofort “Danke”, würde ich sie dann anherrschen “Wie sagt man da???”? Wenn ich in der Bäckerei ein Kipferl bestelle, würde mich die Angestellte anfahren “Bitte heißt das!!!” oder das Sackerl mit dem Kipferl neckisch vor meiner Nase aber gerade außerhalb meiner Reichweite baumeln lassen und mit süßlicher Stimme fragen “Wie heißt das Zauberwort?”? Nein. Und wenn doch, würden wir das mit gutem Recht ziemlich seltsam finden… Warum also sollte es unseren Kindern gegenüber okay sein?
“Do as I say, not as I do” oder “Do as I do”?
Was uns dieses englische Idiom ebenso vor Augen führt wie die Geschichte von Finn und Gloria ist die unglaubliche Macht, die unsere Vorbildwirkung auf unsere Kinder hat – in ihrer Entwicklung, ihrem Verhalten, in der Art, wie sie sich, andere und die Welt wahrnehmen. Wir können diesen Faktor gar nicht überschätzen! Das ist eine schlechte Nachricht für all jene, die wollen, dass sie mit ihren Kindern hart und respektlos umgehen dürfen, während diese ihnen stets höflich und respektvoll zu begegnen haben. Wie es ja in der Schwarzen Pädagogik durchaus vorgesehen war. Das ist nämlich nicht nur ein grundverkehrter sondern auch ein echt anstrengender Weg.
Es ist aber eine extrem gute Nachricht für alle, die in der Familie ohnehin einen respektvollen, liebevollen, möglichst gewaltfreien Umgang miteinander anstreben. Denn dann können wir unseren Kindern “einfach” (sooo einfach ist es dann auch wiederum nicht immer) das vorleben, was wir von ihnen zurückgespiegelt bekommen wollen. Und wenn wir in diesen entzückenden kleinen Spiegeln einmal etwas sehen, was uns nicht gefällt, ist es nicht unsere Aufgabe, für den Spiegel Sanktionen und Konsequenzen zu setzen, sondern bei uns selbst noch einmal nachzuschauen, gegebenenfalls nachzujustieren und uns auch für unser Verhalten zu entschuldigen, wenn es angebracht ist. Dann dürfen wir uns nämlich daran erfreuen, wenn wir unser eigenes Verhalten in ihrem widergespiegelt sehen, anstatt mit hochrotem Kopf im Boden versinken zu wollen…
Noch ein Beispiel zum Abschluss, das diesen Effekt so deutlich macht, dass es weh tut: Die kleine Emily hat beim Toben vor lauter Übermut ihre Freundin Saskia zu fest am Arm gezogen, sodass diese hingefallen ist und jetzt weint. Emilys Mutter ist das vor Saskias Mutter unglaublich peinlich, also geht sie zu Emily, packt sie fest am Arm, zerrt sie zu Saskia und fordert eine Entschuldigung von ihr. Wie zur Hölle soll Emily jemals lernen, sich wirklich von Herzen zu entschuldigen? Allein die Frage, warum es ganz offensichtlich nicht okay war, dass sie Saskia am Arm gepackt hat, aber sehr wohl okay ist, dass ihre Mutter sie am Arm packt, ist schlicht und ergreifend nicht logisch beantwortbar. Mit etwas Pech wird sie zu einem jener Menschen heranwachsen, die die Wunde, die durch das Gefühl von “Solange ich klein bin, bin ich den Erwachsenen und ihren Launen machtlos ausgeliefert” entsteht, so tief in sich tragen, dass sie ein Leben lang jede Situation suchen und weidlich ausnutzen, in der sie sich endlich einmal in der Position der Großen, Machtvollen befinden… Es ist ein Teufelskreis, aber einer den wir brechen können, selbst wenn wir in uns spüren, dass wir durchaus auch Erfahrungen in uns tragen, die uns dafür prädestinieren würden, ihn weiter zu führen…
Nächste Woche schauen wir uns dann an, wie wir das mit dem Vorleben der gewünschten Verhaltensweisen konkret gestalten können und – wenn es sich noch ausgeht – auch welche Möglichkeiten wir haben, um unsere Vorbildwirkung sanft zu verstärken ohne gleich in die Dressur abzugleiten. Wenn ihr Lust auf eine kleine Wochenaufgabe habt, legt euch doch für die kommende Woche eine kleine Stricherlliste an: Wie oft erwarte ich von meinem Kind, dass es zu mir oder anderen “Bitte”, “Danke” und “Entschuldigung” sagt – und wie oft sage ich selbst tatsächlich zu meinem Kind oder in seiner Gegenwart zu anderen “Bitte”, “Danke” und “Entschuldigung”? Viel Spaß und bis zum nächsten Mal :)!
***Herzlichen Dank für die Illustration an Orsolya Fodor (@tamatea16 auf Instagram)***
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