Zahnputzzeit ohne Streit!
Teil 3: Druck raus, Entspannung rein!
Audio Blog
“So geht’s auch!”, denke ich mir manchmal, wenn eine Situation auf unvorhergesehene oder unkonventionelle Weise gemeistert oder aufgelöst wird. Dieses „thinking outside the box“, dieses Über-Bord-Werfen von eingefahrenen Mustern und überholten Vorstellungen, dieser Mut zum Andersmachen – das gehört für mich zu den nützlichsten Fertigkeiten im Elternalltag.
Im Grunde braucht es nur drei Zutaten, die uns den Ausstieg aus Machtkämpfen und festgefahrenen Situationen erleichtern:
1. Wir müssen bereit sein, unsere Vorstellungen davon, wie es sein sollte, zu hinterfragen und loszulassen.
2. Wir dürfen unserer Kreativität und der unserer Kinder beim Finden von neuen Lösungen freien Lauf lassen.
3. Wir brauchen mitunter etwas Übung, um in diese neue Art zu denken hineinzufinden.
Letzteres wird einfacher, wenn wir anderen dabei ein bisschen über die Schulter schauen können und uns so inspirieren lassen. Und genau dazu dient diese Serie. Wir nehmen exemplarische Situationen unter die Lupe, die in vielen Familien konfliktbehaftet sind, und schauen uns ein paar #sogeht’sauch-Ansätze dazu an. Im heutigen dritten Teil der Miniserie rund ums Zähneputzen geht es um die verzwickte Frage, wie wir aus der Druck-Gegendruck-Spirale aussteigen und mehr Entspannung in die Situation bringen können.
Druck erzeugt Gegendruck
Ich habe es schon im ersten Teil angesprochen: Es gibt keine Situation, in der ich mein #Elternmantra „Druck erzeugt Gegendruck“ so oft anwende wie das Zähneputzen. Im ersten Teil habe ich auch meine Überlegungen dazu mit euch geteilt, warum gerade das Zähneputzen in so vielen Familien mit so viel innerem und damit auch äußerem Druck verbunden ist. Heute interessiert uns aber der ganz praktische Aspekt: Wenn wir schon einen erhöhten Blutdruck bekommen, wenn wir nur am Badezimmer vorbeigehen, wenn unsere Kinder schon präventiv die Haare sträuben und einen Katzenbuckel machen, wenn in der Morgen- oder Abendroutine das Zähneputzen als nächster Punkt auf der Tagesordnung steht, dann brauchen wir dringend Methoden, um den Druck raus und mehr Entspannung rein zu kriegen.
Die Situation verändern
Wenn die Situation schon besonders verfahren und negativ aufgeladen ist, erwarten alle Parteien schon von vorne herein Spannung und Konflikt, einfach weil es immer so ist. Und eine Unzahl kleiner und kleinster Merkmale können als Trigger für diese Spannungsgefühle wirken: Alleine das Betreten des Badezimmers, das einem in diesem Moment plötzlich viel enger und kleiner vorkommt als sonst, der Geruch, die Geräuschkulisse, die Farbe des Hockers, auf dem das Kind partout nicht sitzen will,… Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Eine ebenso unkonventionelle wie einfache und überraschend effektive Methode ist es hier, die Situation radikal zu verändern und so unserem Gehirn und dem unseres Kindes zu vermitteln, dass jetzt alles anders ist, was dazu führt, dass auch unser aller Verhalten weniger leicht in die bereits eingefahrenen, destruktiven Bahnen rutscht, auch wenn wir uns das Gegenteil so fest vorgenommen haben.
Kehrt also dem Badezimmer und allen damit verbundenen Ärgernissen ganz bewusst den Rücken. Schnappt euch Zahnbürste, Zahnpasta, Zahnputzbecher mit Wasser und einen zweiten Becher zum Hineinspucken und sucht euch jeden Tag einen neuen Platz zum Zähneputzen. Besonderes Highlight aus meiner Erfahrung: Alles, was an der frischen Luft ist. Eine der vielen Weisheiten, die mir meine Großmutter mit auf den Lebensweg gegeben hat, lautet „An der frischen Luft verdünnt sich alles“, und ich staune immer wieder darüber, wie sich das bewahrheitet, egal ob es um schwierige Gespräche, Konflikte oder große Emotionen geht. An der frischen Luft hat alles plötzlich mehr Raum, es ist plötzlich nicht mehr so eng um die Brust und vieles kann zur Ruhe kommen. Wenn ihr also die Möglichkeit habt, auf den Balkon, die Terrasse, in den Garten, in den Hof oder auf den Gehsteig vor dem Haus auszuweichen, probiert das einfach mal aus! Manche Kinder haben auch eine irre Freude daran, wenn sie beim Ausspülen in die Wiese oder eine Topfpflanze spucken dürfen statt ins langweilige Waschbecken. Wenn ihr nicht an die frische Luft könnt, probiert andere Orte in der Wohnung aus. Einmal auf der Küchenarbeitsplatte sitzen zum Zähneputzen oder im Kinderzimmer, oder mit der Mama unter den Esstisch kriechen. Je lustiger und verrückter, desto besser. Ich habe auch schon im Apfelbaum und auf dem Klettergerüst die Kinderzähne geputzt 😉. Eure Kinder haben dazu bestimmt auch tolle Ideen!
Aber das Verändern der Situation funktioniert natürlich nicht nur innerhalb unseres eigenen Wohnbereichs: Kennt ihr das auch, wenn ihr abends außer Haus seid – jetzt im Sommer vielleicht einen Ausflug zu einem Badesee gemacht habt und euch ein Picknick zum Abendessen mitgenommen habt, oder bei Freund*innen zum Abendessen eingeladen seid – und dann spät abends mit müden, schlafenden oder halbschlafenden Kindern heimkommt. Und jetzt steht noch die Abendroutine an. Uff! Das ist so richtig anstrengend! Ich habe mir angewöhnt, wann immer wir außer Haus zu Abend essen, auch das Zahnputzzeug der Kinder mit einzupacken und dann einfach vor Ort vor dem Aufbruch die Zähne zu putzen. Das funktioniert wunderbar, weil die Situation dadurch noch stärker aufgebrochen und verändert ist und es für die Kinder meistens ziemlich witzig ist, gewohnte Dinge an völlig ungewohnten Orten zu tun. Hihi, Zähneputzen am Badesee und beim Ausspülen Weitspucken üben.
Der Tanten*effekt(*die Tante steht hier natürlich stellvertretend für alle lieben Menschen aus dem Umfeld unseres Kindes)
Wenn wir Glück haben, sind wir auch noch mit anderen Menschen beisammen (zum Beispiel mit jenen lieben Freunden, die uns zum Abendessen eingeladen haben). Das ist dann überhaupt der Jackpot, wenn Omas, Opas, Onkels, Tanten und andere wohlgesonnene liebe Menschen in den Genuss kommen, uns diese Aufgabe abzunehmen. Der Tanten*effekt erhöht schlagartig erstens die Kooperationsbereitschaft als auch den Spaßfaktor der ganzen Aktion.
Und wenn das auserkorene Opfer möglichst unprofessionell an die Sache herangeht und sich vom Kind erst einmal viele Tipps holt, wie es das mit dem Zähneputzen denn angehen sollte, umso besser. Das Kind wird dadurch vom passiven Part, an dem eine Handlung vollzogen wird, zum*zur Expert*in.
Diesen Effekt können wir übrigens selbstverständlich auch ausnützen, wenn wir zum Beispiel Besuch haben – und eventuell können wir auch mal mit den Nachbarn kurz Kinder tauschen zum Zähneputzen oder eine gemeinsame Zahnputzparty veranstalten… Und wenn das Zähneputzen bei euch vielleicht immer die Aufgabe von einem Elternteil ist, kann auch das andere Elternteil bereits den Tanten*effekt auslösen, oder ein größeres Geschwister (je nachdem wie viel größer das Geschwister ist, müssen dann unter Umständen die Eltern nochmal nachputzen – und es sollte ganz besonderes Augenmerk auf die Freiwilligkeit bzw. die Klärung der Verantwortung gelegt werden: Kein Kind sollte sich dafür verantwortlich fühlen müssen, seinem Geschwisterchen die Zähne zu putzen!)
Bitte alle aussteigen!
Gesetzt den Fall, wir haben an der Situation verändert, was wir eben zum gegebenen Zeitpunkt verändern können, aber die Dynamik zwischen uns und unserem Kind lässt sich davon herzlich wenig beeindrucken: Wir nehmen die Zahnbürste in die Hand, das Kind presst reflexartig die Lippen aufeinander, wir packen ebenso reflexartig mit der einen Hand die Zahnbürste etwas fester und mit der anderen das Kind. Und gleichzeitig spüren wir den Druck in unserem Inneren heraufkriechen und wissen genau, dass das kein schönes Ende nimmt. Das ist der Moment, in dem wir die Stopp-Taste drücken. Wir lassen unser Kind los und legen die Zahnbürste hin. „So funktioniert das gerade nicht“, sagen wir vielleicht – zum Kind und zu uns selbst. „Und was dann?“, höre ich euch fragen. Die überraschende Antwort ist: DAS ist schon der schwierigste Teil der Übung! Dieses Loslassen, dieses Aussteigen, dieses Stopp-Sagen zu den eingefahrenen Mustern und Spurrillen unseres Verhaltens. Was dann kommt, ist individuell und hochgradig von der Situation und den Beteiligten abhängig:
Was brauche ich?
Immens hilfreich ist es, wenn ihr euch mittelbar oder unmittelbar nach dem Aussteigen aus der Druckspirale – auf jeden Fall aber vor dem nächsten Versuch – einen Moment für euch nehmen könnt, für eine kurze Achtsamkeitsübung, eine kleine Meditation, einen Moment der Innenschau oder ganz trivial einfach ein Glas Wasser, ein paar Atemzüge frische Luft,… was auch immer euch entspannt und in eure Mitte bringt. Jetzt geht es darum, dass ihr es schafft, euren inneren Druck gut zu managen. Vielleicht spürt ihr gerade auch einen Druck in euch, der mit dem Zähneputzen eigentlich gar nichts zu tun hat, sondern den ihr aus der Arbeit oder sonstwoher mitgebracht habt, der aber jetzt dazu beiträgt, dass eure Nerven von Haus aus angespannter, euer Geduldsfaden kürzer ist. Je besser ihr es jetzt schafft, euch selbst in einen guten, entspannten, geerdeten Zustand zu versetzen, umso entspannter wird es weitergehen.
Was brauchst du?
Nicht nur für euch war der Tag vielleicht lang, sondern auch für eure Kinder. Auch sie haben vielleicht Erlebnisse und Emotionen zu verarbeiten, die sich gerade in dieser Situation ihren Weg an die Oberfläche gebahnt haben. Es liegt also nahe, auch dem Kind jetzt die Möglichkeit zu geben, in seine eigene Mitte zu finden. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass sowohl jeder Mensch in dieser Hinsicht anders funktioniert als auch Kinder typischer Weise anders funktionieren als Erwachsene. Was braucht euer Kind also jetzt? Vielleicht möchte es etwas erzählen, vielleicht wild spielen, toben oder auch kuscheln und Nähe tanken,… hört ruhig darauf, was es euch jetzt signalisiert. Im Idealfall kann sich eine zweite Person um die Bedürfnisse des Kindes kümmern, während die beteiligte erwachsene Person um sich selbst kümmert. Wenn das nicht geht, schaut situativ, wie und in welcher Reihenfolge ihr die Bedürfnisse beider Beteiligter gut wahrnehmen und erfüllen könnt. Erst wenn beide gut zur Ruhe gekommen sind, startet ihr den nächsten Versuch.
Zahnputzbereit?
Im Idealfall spielen wir das ganze „Was brauche ich – Was brauchst du“-Spiel bereits, bevor wir überhaupt den ersten Versuch starten… Gerade bei so alltäglichen Handlungen wie Zähneputzen oder Schuhe Anziehen vergessen wir im Trubel des Alltags oft darauf, dass diese Handlungen für unsere Kinder unter Umständen gerade viel weniger trivial sind als für uns und wir daher gut daran tun, vorher abzuklären, ob der Zeitpunkt, zu dem wir uns vorstellen, dass sie stattfinden sollten, auch für unsere Kinder ein passender ist.
Gerade wenn bei uns also in Bezug auf das Zähneputzen der Bogen ohnehin bereits nennenswert vorgespannt ist, ist es vielleicht eine gute Idee, erstens generell darüber nachzudenken, an welcher Stelle in der Morgen- bzw. Abendroutine das Zähneputzen bei uns steht (darüber machen wir uns dann in Zusammenhang mit dem Kooperationstank noch ausführlicher Gedanken), und zweitens in der konkreten Situation immer noch einmal abzuklären, ob ein entspanntes Zähneputzen JETZT gerade für uns UND unser Kind überhaupt möglich ist.
Wenn wir uns also zum Beispiel vorgenommen haben, dass nach dem Abendessen die Zähne geputzt werden, überprüfe ich beim Abräumen des Tisches nebenbei meinen eigenen Gefühlszustand: Wie geht es mir gerade? Bin ich entspannt? Wurmt mich etwas? Stresst mich etwas? Was brauche ich, um jetzt gut in meiner Mitte anzukommen? – Dann wende ich den Blick auf mein Kind: Wie geht es ihm gerade? Ist es ruhig und entspannt? Wirkt es unausgeglichen? Hat es ungestillte Bedürfnisse? Was könnte es brauchen, um gut in seiner Mitte anzukommen? Natürlich muss ich mir diese Fragen nicht alle selbst beantworten sondern kann gerne in Kommunikation mit meinem Kind gehen – Wenn wir beide ruhig und entspannt sind, frage ich also „Bist du jetzt zähneputzbereit?“ Wenn die Antwort „Ja“ lautet, gehen machen wir uns umgehend ans Werk. Wenn wir unserem Kind diese Frage bisher noch nicht gestellt haben, weil wir den Eindruck hatten, wir müssten diesen Zeitpunkt bestimmen, wird unser Kind vielleicht schon aus Prinzip mit „Nein“ antworten, einfach weil es wissen will, was dann passiert, ob es so vielleicht das Zähneputzen ganz umgehen kann. Wenn wir diese Methode anwenden wollen, ist es also wichtig, dass wir nicht unter Zeitdruck stehen und es auch für ein „Nein“ den notwendigen zeitlichen Spielraum gibt. Unsere Gegenantwort auf dieses Nein lautet stets „Gut, was fehlt noch, damit du zähneputzbereit bist?“ Damit kommunizieren wir: „Das Zähneputzen selbst ist nicht verhandelbar, aber ich bin gerne bereit, auf deine Bedürfnisse und Wünsche rundherum einzugehen.“ Dann können wir gemeinsam einen Plan schmieden, wie wir die Sache so angehen, dass es für uns beide passt. – Geraten wir trotzdem in die Druckspirale, fangen wir wieder bei „Bitte alle aussteigen!“ an…
Der radikale Ansatz
Ich habe schon in Teil 1 erwähnt, dass es aus meiner Sicht sehr, sehr wenige Situationen gibt, die einen körperlichen Übergriff von Eltern gegenüber ihren Kindern rechtfertigen – und das Zähneputzen gehört nicht dazu. Es richtet großen Schaden an den Seelen unserer Kinder und an unserer Beziehung zu ihnen an. Hier möchte ich ein Bonmot einer Zahnärztin(!) einstreuen: „Zähne kann man leichter reparieren als die Psyche.“
Das heißt nicht, dass wir uns jetzt alle bequem zurücklehnen können und die Kariesbakterien in den Mündern unserer Kinder im Namen der Bedürfnis- und Beziehungsorientierung ungestört wüten lassen können. Aber das heißt, wenn die Situation bei uns so verfahren ist, dass es ohne Gewalt gar nicht mehr geht, kann es eine Möglichkeit sein zu sagen „Ich tu erst einmal alles, was ich für die Zahngesundheit meines Kindes tun kann, ohne die Zähne zu putzen. Ich gebe uns einen Tag oder zwei zum Durchatmen und gehe die Sache dann noch einmal ganz von vorne an.“ Für diese Tage gilt dann Folgendes: Wir meiden kariogene Lebensmittel (vor allem Zucker in allen Erscheinungsformen), nach jedem Essen und vor dem Schlafen wird der Mund gespült bzw. ein Glas Wasser getrunken, um die Essensreste wegzuspülen und das Milieu im Mund zu neutralisieren. Wir erklären unseren Kindern, was wir tun und warum und finden dann im Idealfall gemeinsam einen Weg, wie wir unseren Zahnputz-Restart gestalten können.
Jetzt bin ich aber gespannt, wie das mit dem Zähneputzen bei euch so ist! Erzählt doch mal! Ist bei euch das Badezimmer Krisenzone? Und habt ihr auch schon die Erfahrung gemacht, dass es anderswo immer besser zu gehen scheint? Was waren bis jetzt eure originellsten Zahnputzmomente?
Ich freue mich auf eure Geschichten und gerne auch eure Fragen und Anregungen in den Kommentaren! Und schaut doch nächste Woche wieder vorbei, wenn wir den Kooperationstank und das Autonomiestreben näher unter die Lupe nehmen!
***Herzlichen Dank für die Illustration an Orsolya Fodor (@tamatea16 auf Instagram)***
Nie mehr Machtkampf
Mehr über den Weg raus aus “beliebten” Elternfallen und ebenso liebevolle wie lösungsorientierte Kommunikation in der Familie gibt’s in meinem Workshop “Nie mehr Machtkampf. Dein Weg raus aus der Elternfalle”!
Für Gruppen ab 4 Personen könnt ihr ihn als workshop @home (im Sommer auch gerne als Frischluft-Workshop) buchen!
Recent Comments